Hier mal wieder eine Kurzgeschichte, eine Drei-Wort-Geschichte mit ~2.400 Zeichen und den Vorgaben:
- Ort: Zuckerhut
- Person: Straßenkehrer
- Gegenstand: Nagel
Nur ein Nagel
Langsam wich das tiefdunkle Blau des Nachthimmels der Morgendämmerung. Miguel beeilte sich, mit dem letzten Abschnitt der Rue César Aleman fertig zu werden. Gleich würde der schwere Wagen der Straßenreinigung, der die großen Boulevards säuberte, um die Ecke biegen, um ihn aufzusammeln. Miguel war Straßenkehrer und für die umliegenden Gassen und kleineren Straßen zuständig. Und die, in denen die Touristen der ganz teuren Hotels nicht vom Lärm gestört werden sollten. In Marseille wusste man um deren oftmals ausgeprägte Überempfindlichkeit. Sogar eine Sauberkeitspolizei, la police propriété, hatte man eingeführt.
Miguel dachte an seine Familie in Rio und das Los der Armut, das ihn vor vielen Jahren auf einem der großen Frachtschiffe von Brasilien nach Frankreich gespült hatte. Marseille war der erste Hafen gewesen, den sie angelaufen hatten, und hier war er geblieben. Eine Sauberkeitspolizei in Rio? Undenkbar. Oder doch? Was wusste er schon? Nur dass er den Pão de Açúcar, den Zuckerhut, wie er in Frankreich genannt wurde, so wenig wiedersehen würde wie seine Familie.
Immerhin lag Marseille am Meer. Es war nur das Mittelmeer, nicht der Atlantik. Aber selbst in dieser Straße glaubte er, das Meer riechen und die Brandung hören zu können. Und die Menschen hier gefielen ihm, die meisten jedenfalls. Anouk zum Beispiel. Als er die kleine, lebenslustige Verkäuferin mit den schwarzen Augen und dem warmen, sanften Körper kennenlernte, hatte sie ihn an seine Schwester erinnert. Luiza. Wie sehr er sie vermisst hatte.
Porra! Wenn seinen Kollegen ein kräftiges „merde“ entfuhr, fluchte er noch immer portugiesisch. Er wischte sich mit dem schmutzigen Handschuh kurz über die Augen. Seit wann war er so rührselig? Wurde er alt? Das fehlte gerade noch. Im Schein der Straßenlaterne blinkte vor seinem Besen etwas auf. Miguel bückte sich. Ein eigenartig geformter Ring. Er betrachtete ihn näher. Ein Ring aus einem silbrig schimmernden Nagel gebogen. Den Nagelkopf zierte ein blauer Stein. Hübsch. Ob er etwas wert war? Dann musste er ihn abgeben.
Gerade als der große Wagen an der Kreuzung hielt, um ihn abzuholen, verschwand der Ring in seiner Hosentasche. Es war doch nur ein Nagel. Aber hübsch. Er würde ihn Anouk schenken. Sie erinnerte ihn schon lange nicht mehr an Luiza. Aber wenn sie sich liebten, war es trotzdem ein bisschen wie nach Hause kommen.
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Das Headerbild stammt im Original von Dorothea Oldani by Unsplash und wurde von mir mit Photoshop verändert.
Wunderbar, liebe Elke. Gefällt mir richtig gut. Ich bin immer wieder angetan von Deinem Schreibstil.
Liebe Grüße
Jutta
Dankeschön. Mal sehn, ob du das auch bei der nächsten noch sagst *lach*. Da komme ich mal mit tiefschwarzem Humor.